Donnerstag, 15. Februar 2024

Der Brunnen in der Wüste

Wenig ist mysteriöser und inspirierender als das Verworfene; die schriftstellerische Karriere eines Arno Geiger fußt mitunter auf seiner geheimen Leidenschaft, die Altpapiercontainer der Stadt in nächtlichen Missionen nach privaten, aussortierten Dokumenten zu durchstöbern (ein Geheimnis, das er in seinem letzten Buch leider preisgab). Überall in der Stadt lauert das Geheimnis, es ist völlig dystopisch, sich eine Stadt ohne zu denken – ich erinnere mich, einmal im Mülleimer an einer U-Bahnstation einen weggeworfenen Liebesbrief entdeckt zu haben, genauer: das erklärte Ende einer Liebe; ich hatte dieses unendlich intime und tragische Papier damals aus dem offenen Behälter gefischt, verblüfft durchgelesen und wieder zurückgelegt. Obwohl ich in Versuchung kam, wusste ich (empfand ich), dass dieser Schatz nicht für mich, nicht für irgendjemanden bestimmt war. Manches will nicht gefunden werden. Anderes schon.

Es ist ein stürmischer Montagabend, als ich auf dem Weg nach Hause in die Straßenbahn steige und am Boden ein Papier entdecke. Unter einem leeren Sitzpaar liegt eine ausgerissene Buchseite; ich zögere kurz, dann hebe ich sie auf, wende und betrachte sie. Stil und Dialoge weisen auf einen Roman hin, es geht um einen Militärpiloten und Ich-Erzähler, der in der Sahara notlandet und dort zufällig auf einen vereinsamten alten Unteroffizier trifft, welcher wiederum auf die Ankunft eines ominösen Hauptmannes wartet und das Auftauchen des Bruchpiloten wie ein Wunder, wie die Entdeckung eines Wüstenbrunnens befeiert.

Es wäre nicht besonders schwer, herauszufinden, aus welchem Buch die Seite stammt und wer sie verfasst hat; der erste, spontane Gedanke tippt auf Antoine de Saint-Exupéry – ich habe zwar (wie alle) nur seinen kleinen Prinzen gelesen, doch ich weiß, dass er selbst Kampfpilot und von der Wüste so besessen war, dass er ständig und überall über sie schreiben musste, vielleicht schrieb er überhaupt nur eine einzige lange Wüstenmetapher – doch ich entscheide mich dagegen: Ich will das Geheimnis der Buchseite nicht aufgeben, das Rätsel um seinen Schöpfer nicht in Gewissheit auflösen; vielmehr interessiert mich, was neben dem Inhalt steht.

Irgendjemand hat diesen Textabschnitt mit Bleistift markiert und um ihn herum eine Notiz verfasst, ganze vier Mal steht sie da, in dringlichen, hektischen Großbuchstaben: LANGSAM LESEN. Dieser Hinweis, die mehrfache Graphitnotiz scheint mir spannender als die Suche nach dem Autor, sie ist der eigentliche Schatz, die Entdeckung dieser Straßenbahnfahrt: Sie sagt mir, dass sich diese Seite womöglich nicht zufällig aus einem alten Taschenbuch gelöst hat und unter die Sitze gerutscht ist, nein, die Botschaft „langsam lesen“ deutet ganz im Gegenteil darauf hin, dass jemand diese Seite ganz bewusst ausgerissen und in den Öffis platziert hat, in der Hoffnung oder dem Glauben, dass jemand sie entdecken und aufheben, den Text schließlich lesen und seiner hingerotzten Aufforderung nachkommen würde.

Und ich stelle mir vor, dass diese Person, wer auch immer sie ist, sich darüber freuen würde, wenn jemand diesem Fund einen eigenen, kurzen Text widmete, einen Text, der keine Antworten und keine Offenbarungen bereithält, sondern nur die schiere, sich selbst genügende Freude an der Entdeckung. Und in meiner eigenen (größeren) Hoffnung wird diese Person irgendwann auf meinen ausgelegten Text stoßen und im Lesen das gleiche rätselhafte Glück empfinden wie der einsame Unteroffizier nach der Notlandung des Erzählers.

Unwahrscheinlich, naiv, natürlich, doch darum geht es nicht. Auf einer einzigen, langsam gelesenen Doppelseite habe ich gelernt, dass es in der Wüste nicht bloß auf das Finden der Oase ankommt – sondern vielmehr, an die Existenz des Brunnens zu glauben.

Montag, 5. Februar 2024

Brief an Flaubert

Es gibt eine Stelle (eine einzige Stelle) in Salambo, an der so etwas wie Zärtlichkeit durchscheint. Sie findet sich erst im vorletzten Kapitel, nach einer schier endlosen Aneinanderreihung von unpackbaren Grausamkeiten und Bestialitäten, massenhaft zersplitterten Knochen, zerfetzten Körpern und geopferten Kindern, als bereits der Moloch in Karthago herrscht und das Volk dem Untergang geweiht scheint; durch drei Jahre Krieg muss man bis zu der Stelle hindurch, drei Jahre Kampf und Tod und Elend, weil uns Gustave Flaubert kein Detail erspart in seinen ultrabrutalen Schlachtenschilderungen, als hätte er selbst das Schwert geführt, das Kamel geritten und den Elefanten erlegt – es fällt tatsächlich schwer zu akzeptieren, dass es immer noch keine Zeitreisen gibt, denn Flaubert hat es gesehen, er war dort, während ihn die Familie einen Idioten schimpfte, wanderte er durch die Ruinen Karthagos, um sie zwischen zwei Buchdeckeln wieder aufleben zu lassen, zweitausend Jahre vor seiner Existenz, als dieses längst vergangene Reich noch eine pulsierende und prunkvolle Hafenmetropole, die Stadt der Städte war.

Ebenso schwer zu glauben, dass Flaubert sein blutverschmiertes Schlachtenepos direkt auf die Madame Bovary folgen ließ, zwei Werke, die so gar nichts gemeinsam haben außer einen Frauennamen im Titel, und selbst dieser täuscht noch: denn Salambo ist nicht einfach nur die Königstochter Karthagos, sie ist das umkämpfte Reich selbst – so wie der amerikanische Dichter William Carlos Williams in seinem Endlosgedicht Paterson den Gedanken poetisiert, jemand könne gleichzeitig eine Person und eine Stadt sein, so ist Salambo gleichzeitig die Tochter des Hamilkar und die antike Stadt, in deren Herzen sie lebt – sie steht nicht für Karthago, sie ist Karthago. Nur wegen ihr will der irre Söldnerführer Matho die Stadt um jeden Preis: Karthago zu erobern bedeutet, Salambo zu erobern. Indem er einen Krieg auf die nackten Schultern seiner Titelheldin setzt, treibt Flaubert das sture männliche Besitzdenken auf die Spitze: wenn Matho diese außerweltlich schöne Frau nicht für sich haben kann, so will er sie mitsamt der Stadt vernichten, und mehr aus persönlicher Kränkung, als aus militärischer Logik wird er Karthago mit seiner Armee von Barbaren belagern: „Wenn er ihren Leichnam gesehen hätte, wäre er vielleicht abgezogen.“ Und genau dieser letzte Halbsatz, dieses „vielleicht“, dass der Autor ihm in die Gedanken schreibt, es genügt, um zu verstehen, dass der gesamte Krieg, seine ungeheuren Konsequenzen und Verluste letztendlich nur ein Vorwand sind, um einer infantilen Emotion nachzukommen, dem ewigen Herrschaftsanspruch aus der Sandkiste: Das gehört mir – oder keinem!

Unendlich viel Leid, Blut und Terror bildet sich um dieses „vielleicht“, von dem der Feldherr der Barbaren nicht zurückkann, weil er sonst offenbaren müsste, aus welch absurdem Grund er den Krieg überhaupt begonnen hatte, er müsste sich (vor allem) Schwäche eingestehen – und das ist unmöglich, das ist unmännlich, das kann ein kompromissloser Weltliterat wie Flaubert nicht zulassen. Und doch schenkt er uns eine Stelle, in der genau das anklingt, sehr leise und kurz nur, aber doch: eine Liebe ohne Besitzdenken. Ein unmännlicher Umgang unter Männern.

Als sich eine kleine Gruppe von vierhundert blutdurstigen Söldnern – Etrusker, Libyer, Spartiaten – anschickt, gegen die gepanzerte Übermacht der Karthager in den sicheren Tod zu rennen, macht ihnen Hamilkar ein überraschendes Angebot: da er tapfere Soldaten wie sie brauche, „sollten sie auf Leben und Tod miteinander kämpfen, dann würde er die Sieger in seine Leibwache aufnehmen.“ Andernfalls würden sie alle von seinen Elefanten zermalmt werden. Beim Anblick der klingenbesetzten Herde scheint die Entscheidung klar, und doch zögern die Söldner plötzlich; diese vierhundert Männer, die nie ein Problem damit hatten, für ein wenig Sold zu schlachten, zu morden und bis in den Tod mit ihren Feinden zu ringen, sie waren über die Jahre zu unwahrscheinlichen und loyalen Liebenden geworden, Kameraden, deren gemeinsame Bände ihnen „ebenso ernst waren wie eine Ehe“ – und bei dem Gedanken, aufeinander losgehen zu müssen, da begannen sie unvermittelt zu weinen und zu trösten, sich schüchtern vom Nächsten zu verabschieden, bevor sie in trotzige Raserei verfallen und den anderen zu erlösen suchen: „Bisweilen“, schreibt Flaubert, „hielten zwei Männer blutüberströmt inne, sanken einander in die Arme und starben unter Küssen.“

Es sind die einzigen Zärtlichkeiten, die in Salambo ausgetauscht werden, und sie werden nicht seiner geisterhaften Titelheldin zugestanden, sondern einer Gruppe von mordenden Männern, die sich gegenseitig zur Familie, zu einer Heimat geworden sind, die sie niemals hatten. Und nicht in den seitenlangen Angriffen und Gegenangriffen, der grenzenlosen Gewalt und Vernichtung der Völker, sondern in genau diesen zärtlichen Küssen zeigt sich die Absurdität des Krieges am eindringlichsten: weil es diese ehrliche Hingabe, diese „unsittliche Bindung“ und offene Liebe unter Männern ohne den Krieg gar nicht geben würde, niemals geben könnte.

Dass es erst einen Krieg braucht, um eine solche Verbundenheit zu ermöglichen, ist die vielleicht grausamste Pointe in einem Werk voller Grausamkeiten. Nur folgerichtig, dass Flaubert der Szene ein unerbittliches Ende setzt: Anstatt sie in seine Leibwache aufzunehmen, lässt Hamilkar die überlebenden Söldner nach dem qualvollen Todeskampf mit ihren Kameraden an eine Wasserquelle führen – und sie dort hinterrücks erdolchen.

Sonntag, 28. Januar 2024

Das alte Fräulein

Es gibt Momente, Privilegien in der Museumsaufsicht, die für all die schweren Beine und leichten Lohnzettel entschädigen; etwa zu dem ersten und winzigen Personenkreis zu gehören, der eine echte Sensation bestaunen darf – so zumindest wird die Presse sie nennen, die schöne Verschollene, die an einem Donnerstagvormittag Ende Jänner im barocken Ballsaal präsentiert wird.

Über hundert Jahre galt das Gemälde der jungen Dame als verschwunden, und hier, heute darf ich es exklusiv bewachen und bewundern, bevor es unter den Hammer und in das nächste Wohnzimmer eines anonymen Millionärs gelangt: völlig überraschend kam die Ankündigung eines hiesigen Auktionshauses, in einer Villa am Rande meiner Stadt sei es wieder aufgetaucht, das Fräulein Lieser, eines der letzten Werke Gustav Klimts, von dessen Existenz bisher nur ein einziges, hundert Jahre altes Schwarzweißfoto zeugte. Der Zustand des Gemäldes: hervorragend. Seine Hintergründe: verworren. Weder ist eindeutig geklärt, wer dem Malerfürsten den Auftrag gab, noch wen dieses Fräulein tatsächlich darstellt. Es könnte die Tochter eines jüdischen Industriellen sein (ein gewisser Adolf Lieser), es könnte genauso gut eine Tochter seiner kunstaffinen Schwägerin (Henriette Lieser) sein, die im Zweiten Weltkrieg deportiert und ermordet wurde. Was mit dem Bild in dieser Zeit geschah, ob es (wie so viele) von den Nazis geraubt wurde, ist nicht bekannt – weil nichts aus der Zeit bekannt ist. Schon sehr bald nach Klimts Tod haben sich die Spuren verlaufen, die Aufzeichnungen erschöpft, bis der Name „Fräulein Lieser“ erst Jahrzehnte später in einem Werkkatalog von 1967 wieder auftaucht. Doch das Bild selbst blieb im Dunkeln. Bis jetzt.

Zwanzig Monate, wird der Geschäftsführer des Auktionshauses später bei der Pressekonferenz erzählen, so lange hätte man nach Lichtquellen in den dunkelsten Kapiteln gesucht, doch bei aller Recherche sei man auf keine Anzeichen eines Verbrechens, einer möglichen Enteignung gestoßen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein brauner Elefant neben einem Klimtgemälde im Raum steht; die prominente Lücke in der Provenienz verdeutlicht wieder nur einen Umstand, der im Rekordsummenspiel des Kunstmarktes oft verdrängt wird: die Kunstgeschichte ist auch eine Kriminalgeschichte – nach Menschen- und Drogenhandel rangiert Kunstraub auf Platz 3 der lukrativsten Weltverbrechen, habe ich in der Einschulung gelernt – und kein Werk verschwindet einfach so; es wird heimlich entwendet oder gewaltvoll gestohlen, wird verschleppt, verhökert oder verbrannt, beizeiten zerschnitten, übermalt, verworfen und vergessen, oder, nicht selten, da verstaubt es einfach nur am Dachboden eines zufälligen und achtlosen Erben. Wenn es dann wieder auftaucht, wird es gefeiert wie ein gelöster Fall, ein Überlebender, der allzu lange als verschollen galt. Eine Sensation.

Heute blicke ich auf diese wiederentdeckte Sensation, auf das weiße, schneewittchenhafte Gesicht unter kohlschwarzem Haar, die geäpfelten Bäckchen, ihre müden Augen, ermattet von zu langem Schlaf, doch je näher ich ihr komme, desto klarer und wacher scheint ihr Blick auf einmal, jugendlich herausfordernd, direkt, aber gelassen, ja, beinah mühelos wirft sie die Jahrzehnte ab, diese selbstbewusste Unbekannte, das unvollendete Fräulein im farbenfrohen Blumenmantel (die anskizzierten Hände bleiben für immer ein Graus), das sich plötzlich in einem vergoldeten Raum voller Lärm und Leute wiederfindet, ein Anblick, der aus Sicht der Verschollenen ein Rätsel bleiben muss: an einem lieblos gedeckten, langen Tisch sitzen fünf Personen, die sie nicht kennt, noch nie gesehen hat, und die fachsinnig und akustisch kaum verständlich über ihr so famoses Schicksal fabulieren, während Mikrofone gereicht und geschoben werden und zu spät gekommene Journalistinnen und Medienvertreter über den knarrenden Parkettboden steigen und später die Fragen bemühen, die nicht klar beantwortet werden können, um sich schließlich nach belegten Salzstangen und Kaffee umzudrehen, anstatt in ihre jugendlichen Augen zu blicken, die ewig jugendlichen Augen eines hundertsiebenjährigen Fräuleins.

Wie kann ich ihr nur erklären, dass sie heute dreißig bis fünfzig Millionen wert ist?

Freitag, 19. Januar 2024

Museum der verworfenen Ideen

Es hat zweiundvierzig Räume; in jedem einzelnen ist ein Fragment ausgestellt, ein Werk, das niemals fertiggestellt, ein Gedanke, der nie zu Ende geführt wurde. Es versammelt Ideen aus mehreren Ländern und Epochen, seltsame, skurrile, mitunter lauwarme Ideen, die aus unterschiedlichen Gründen niemals umgesetzt oder vertieft, zuletzt verworfen wurden. Was von ihnen übrig blieb, kann bei freiem Eintritt betrachtet und belächelt werden; nur der letzte Raum des Museums ist versperrt, hinter einer dunkelgrünen, massiven Eisentür bleibt sein Inhalt den Besuchern vorenthalten.

Jeden Abend geht der Nachtwächter seine Abschlussrunde durch das Museum und überprüft, ob alle Gäste draußen sind, alle Ideen unbeschädigt und der letzte Raum wie immer versperrt. Dann schließt er die Eingangstore und schaltet das Licht in der Ausstellung ab, setzt sich in seine kleine und warme Loge und vertreibt sich die Nacht zwischen den Kontrollgängen, indem er alte Taschenbücher durchliest, die er in Stiegenhäusern oder öffentlichen Bücherschränken findet. Er liest Schauergeschichten, Kriminalfälle, Reiseliteratur und die zahllosen, unvermeidlichen Heimatromane eines Johannes Mario Simmel, bis er über den vergilbten Seiten einzunicken droht und sich mit dünnem Kaffee und ein paar Tabakpausen an der kalten Nachtluft bis zum nächsten Morgen rettet.

Wochen, Monate und Jahre zieht der Nachtwächter seine immergleichen Runden durch die dunklen Museumsräume, prüft und schützt die verworfenen Ideen in den einzelnen Räumen; manchmal scheint ihm, dass die Exponate mit der Zeit wachsen und sich wandeln, doch in Wahrheit ist es nur sein Blick, der sich verändert, der ihrem Scheitern etwas hinzufügen will, was nicht da ist. Mit zunehmender Unruhe rüttelt er jede Nacht an der dunklen und massiven Eisentüre des letzten Raumes, um sich zu vergewissern, dass er auch verschlossen ist; und jedes Mal wird die Frage zwingender, was hinter der Tür steckt und warum der Raum nicht ein einziges Mal geöffnet wurde, seitdem er hier ist. 

Eines Abends, als er wieder seine Runde macht, kann er die Neugier nicht mehr halten; er stellt sich vor die Tür des letzten Raumes, fasst nach dem schweren Schlüsselbund, der an seiner Uniform hängt, und probiert dutzende Schlüssel durch, bis tatsächlich einer passt und sich das Schloss bewegt. Er drückt die Metallklinke langsam zu sich, er muss seine ganze Kraft aufwenden, um die massive Tür zu öffnen; dann betritt er den letzten Ausstellungsraum, wischt sich den Schweiß aus der Stirn und schaltet das Licht ein. Der Raum ist leer. Er macht ein paar Schritte hinein, blickt von einer arktisweißen Mauer zur anderen, da glaubt er, auf der Wand gegenüber etwas zu erkennen. Er kommt näher, ganz nah an die Wand und starrt den hellen, frischen Verputz an: auf Bauchhöhe hängt ein winzig kleines Hinweisschild, wie das Titelblättchen eines Exponats; der Nachtwächter bückt sich und betrachtet die schnörkellosen schwarzen Letter, die ihn schaudern lassen: auf dem Schild steht sein eigener Name.

Erschrocken, verwirrt, überfordert wankt der Nachtwächter zurück in die Mitte des Raumes, direkt unter das Licht; die Beine werden ihm plötzlich ganz steif, aus seinen blassen Händen fährt das Blut; und er begreift, dass auch er nur ein Exponat, dass auch seine Existenz nur eine verworfene Idee ist. 

Mittwoch, 13. Dezember 2023

Keine Weihnachtsgeschichte

Es gibt Geschichten, die musst du sofort, ohne zu zögern niederschreiben, sie brennen dir unter den Fingernägeln (wie man so sagt), sie jucken und reizen dich, lassen dich nicht mehr los, bis sie endlich weggeschrieben sind: andere Geschichten dagegen verlangen nach Abstand und Zeit, sie brauchen ihre Dauer, bevor du dich an sie setzen kannst, weil die Empfindung, deine Erinnerung an sie zu intensiv, womöglich schmerzhaft ist, du überhaupt erst eine Erinnerung zu ihr aufbauen musst, und es keine Erinnerung ohne Abstand gibt. Die Geschichte meiner kurzhaarigen Kollegin ist so eine.

Vor einem Jahr, in den letzten Tagen vor Weihnachten, hatten wir gemeinsam Dienst im Fürstenpalais, es musste kurz vor Schluss gewesen sein (ich erinnere mich, es war bereits dunkel draußen, stockfinster, wie man so sagt), sie stand am Haupteingang und ich daneben, und weil keine Gäste in der Nähe waren, taten wir wieder einmal das Verbotene und unterhielten uns miteinander, suchten das Gespräch, um die Zeit zu füllen. Ich kannte die Kollegin bereits, wusste ein paar Dinge über sie (bis heute kann ich nicht sagen, wie man es anstellt, jemanden kennenzulernen, zehre immer noch von dem Umstand, dass sich die Leute mir wahllos anvertrauen); sie ist alleinerziehend, hat zwei Töchter von zwei Männern – warum die Männer heute nicht mehr da sind, ist nicht wichtig, wichtig ist nur, dass sie nicht da sind – und ich weiß, dass sie bei ihrem sogenannten Objektmanager darum kämpfen musste, an Weihnachten frei zu bekommen, um den Tag mit ihren Töchtern zu verbringen. Weil ich das wusste, und weil ich weiß, wie verdammt schwer es ist, als Museumsaufsicht an Weihnachten frei zu bekommen, frage ich, ob sie sich schon darauf freut.

Es ist eine unverfängliche, völlig uninspirierte Frage, banal bis zum Nordpol, doch oft genügt ein Wort, ein Echo, um die Lawine auszulösen. Eigentlich nicht, sagt sie. An Weihnachten muss sie immer an ihre Mutter denken. Im Winter vor zwölf Jahren lag sie mit Metastasen im Bett, ohne Aussicht oder Hoffnung. Es waren diese Tage, um Weihnachten herum, als sie langsam starb, und jedes Jahr, sagt meine Kollegin mit ihrer angenehmen Stimme, wenn Heiligabend wieder ansteht, kommen die Empfindungen, die Erinnerungen wieder hoch, die sich überhaupt erst mit der Zeit geformt haben, nachdem die Geräte schon lange abgeschaltet wurden; denn es gibt keine Erinnerung ohne Abstand.

Sie war damals nicht allein, erzählt sie mir, sie hat eine Schwester, und sie waren beide da, jeden Tag waren sie da, jeden möglichen letzten Tag ihrer Mutter, bis es tatsächlich der allerletzte war, an einem Fest, dass sich der Liebe verschreibt, weil es gut fürs Geschäft ist, doch in diesem Jahr ist nichts gut, rein gar nichts, es ist Tod und Teufel und Trauer, weil es nichts gibt neben dem Krebs, weil die Krankheit ein einziges Loch ist, ein gigantisches, lichtloses Arschloch, das dein Leben in Scheiße begräbt, bis nichts mehr übrigbleibt.

Allein, es stimmte nicht ganz; und genau das macht es heute so schwer, so verwirrend, sagt meine Kollegin mit den frei gewählten kurzen Haaren (vielleicht nicht mit diesen Worten, es macht keinen Unterschied), kurz bevor wir uns in die Feiertage verabschieden. Die Erinnerung ist so furchtbar, weil sie nicht nur mit Schmerz verbunden ist. An den Weihnachten, als ihre Mutter starb, sagt sie, da waren sie und ihre Schwester beide schwanger.

Ich habe ein Jahr gebraucht, um diese Geschichte niederzuschreiben, mit all den unvermeidlichen Ungenauigkeiten meiner eigenen Erinnerung, und fast genauso lange habe ich die kurzhaarige Kollegin nicht mehr wiedergesehen. Ich weiß, dass sie heute bei einer anderen Dienststelle arbeitet; ich kann nur hoffen, dass sie auch diese Weihnachten frei bekommt. 

Mittwoch, 1. November 2023

Sonntag, 22. Oktober 2023

Noch ein paar Notizen zur Immersion

Nichts gegen Anglizismen, aber warum müssen wir immer die billigen Wörter übernehmen? Während im Englischen so beflissene, ausgesprochen schöne deutsche Begriffe wie Doppelgänger, Wunderkind, Katzenjammer, Kindergarten oder Weltschmerz übernommen wurden, eignen wir uns im Deutschen bevorzugt nur englisches Event-Vokabular an, knallige, inhaltsarme Begriffe wie etwa den nimmermüden Boom – ständig scheint irgendetwas irgendwo zu boomen (wer in einem bestimmten Jahrzehnt geboren wurde, ist heute sogar selbst ein Boomer) – und abgesehen davon, dass es ziemlich pietätlos wirkt, in Kriegszeiten verbale „booms“ zu verbreiten, macht sich neuerdings auch in der Museumslandschaft ein neuenglischer Knalleffekt bemerkbar: die immersive Erlebnisschau. Klimt bekam eine, dann Monet, irgendwie auch Banksy, und jetzt Frida Kahlo, die surreale Meisterin der schmerzhaften Selbsterkundung, die sich selbst nie als Surrealistin sah.

Zweimal wurde die Ausstellung bereits verlängert, und bevor sie zu Ende geht, statte auch ich ihr einen Besuch ab, an einem verregneten Montagnachmittag, weit außerhalb des Zentrums, in einem sperrigen, backsteinfarbenen Areal, einer Veranstaltungshalle, die nach dem deutschen Kommunismusvater benannt ist und in diesen Tagen für kapitale Einnahmen sorgen soll. Wobei das altbackene Wort „Ausstellung“ hier bewusst vermieden wird, stattdessen ist von einer IMMERSIVE EXPERIENCE die Rede – doch die einzige Erfahrung, die ich an dem Tag mache, liegt im Gefühl der Abzocke: 24 Euro für eine Schau über eine Malerin, in der kein einziges gemaltes Original hängt; was für die Veranstalter natürlich günstig ist, denn wo es nichts zu stehlen gibt, braucht es auch keine Aufsichten, und überhaupt geht es hier nicht um Maltechnik und Struktur, sondern um das Versprechen, in die Werke (die nicht da sind) mit Leib und Seele einzutauchen – ganz immersiv eben. Doch was ist das eigentlich, Immersion?

Eine Stunde später weiß ich sehr genau, was es nicht ist: Es ist keine laute Dauerbeschallung, keine zerfließende Wandprojektion in grober Pixelqualität, kein billiger Jahrmarkttrick und keine inszenierte Fotostation, keine quadratische Insta-Weisheit, kein kunterbunter Mexikokitsch und ganz sicher nicht die deutsche Synchronstimme von Salma Hayek, die mit falschem Akzent Fridas Leidensweg familiengerecht nacherzählt – nein, ich gestehe, ich war schon skeptisch, als mir ein (sonst wenig kulturinteressierter) Kollege von der Erlebnisschau übertrieben vorschwärmte („Einen ganzen Sonntag haben wir mit der Freundin hier verbracht“), doch ein Kunsturteil aus der Ferne ist ein schwaches, also musste ich es selber sehen, um es müde zu bestätigen: Was hier verkauft wird, ist billiger Karneval, ein farbenfrohes, freundliches Fest für 3D-Fetischisten und netzaffine Frida-Fangirls, doch nichts davon, nichts zieht mich wirklich in den faszinierenden, schmerzgeplagten Kosmos einer untröstlichen Weltkünstlerin; ihre Bildmotive werden zwar bewegt, aber sie werden nicht lebendig, denn eine nervöse Wandanimation ist eben keine gespannte Leinwand, kein bemaltes Unikat, in das ich mich vertiefen kann, eintauchen will – der projizierten Vervielfältigung fehlt tatsächlich jene Aura, die Benjamin beschworen hat, und es hilft auch nicht, wenn eine deutsche Sprecherin über Leidenschaft schwafelt, während gezupfte Latin-Klänge jede Stille aussperren, als fürchteten die Veranstalter nichts mehr als das: Ruhe.

Die Stille, die hier fehlt, nimmt mir jedoch jede Möglichkeit, in die eigenen Gedanken reinzuhören – so erzeugt diese Schau am Ende nur das Gegenteil von dem, was sie verspricht: Sie reißt mich immer wieder aus meinem Kunstempfinden heraus und reduziert den Mythos dieser umtriebigen, rätselhaften und gequälten Künstlerin auf ihre populärsten Motive und bekannteste Beziehung, kurzum: sie überrascht nicht, sie verstört nicht. Sie löst nichts aus, sie tut nicht weh.

Und das ist dann doch vernichtend wenig für ein Kultur-Event, dessen Subjekt sich mit keiner Sache so sehr auseinandergesetzt hat wie mit dem eigenen Schmerz. Wollte man den Gästen eine wirklich immersive Erfahrung verschaffen, dürfte man ihnen keine bequemen Sitzsäcke zur Verfügung stellen – sondern enge Stützkorsette.